Titel
Italia 1943. La guerra continua


Autor(en)
Baldissara, Luca
Erschienen
Bologna 2023: Il Mulino
Anzahl Seiten
472 S.
Preis
€ 32,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Pascal Oswald, Historisches Institut, Universität des Saarlandes

Mit den Schlachten von Stalingrad und El Alamein markieren die Jahre 1942/1943 rückblickend die militärische Wende im Zweiten Weltkrieg. Insbesondere für Italien brachte das Jahr 1943 eine Reihe turbulenter, umstürzender und einschneidender Ereignisse mit sich. Die Arbeiterstreiks vom März stellten eine erste wichtige Manifestation der Massenunzufriedenheit mit dem faschistischen Regime dar. In der Nacht vom 9. auf den 10. Juli landeten alliierte Truppen auf Sizilien. Am 25. Juli wurde Mussolini in einer Art doppelten Palastrevolution gestürzt. Die folgende autoritäre Militärdiktatur unter Marschall Pietro Badoglio, die aufgrund ihrer kurzen Lebensdauer als „Regierung der 45 Tage“ bekannt ist, nahm Verhandlungen über einen Waffenstillstand mit den Alliierten auf. Dieser wurde am 8. September öffentlich bekanntgegeben. Die Deutschen, die ihre militärische Präsenz in Italien bereits während der 45 Tage erheblich verstärkt hatten, besetzten daraufhin große Teile des Landes und entwaffneten die italienische Armee, die sich auflöste und nur vereinzelt Widerstand leistete. Italien wurde auf diese Weise zum „besetzten Verbündeten“.1 Mit der Konstituierung der faschistischen Italienischen Sozialrepublik und dem Beginn der Resistenza markiert der Herbst 1943 zugleich den Auftakt zum italienischen Bürgerkrieg.

1943 stellt somit in vielerlei Hinsicht ein „Brückenjahr“ (S. 15) dar, das einerseits das Ende des faschistischen „ventennio“ 1922 bis 1943, andererseits den Beginn der Resistenza 1943 bis 1945 markiert. Luca Baldissara vernachlässigt in seiner zum 80-jährigen Jubiläum erschienenen, mehr als 450 Seiten starken neuen Gesamtdarstellung keinen dieser beiden Aspekte, wenn er einerseits das Jahr als Folge der faschistischen Eroberungskriege seit spätestens 1935 betrachtet, andererseits die „Resistenza vor der Resistenza“ (S. 28) untersucht. Vor allem aber rückt er das dramatische Jahr 1943 selbst, mit all seinen Eigenheiten und Charakteristika, ins Zentrum. Dabei schenkt er den Stimmen der vielfältigen Akteure, für die der weitere Verlauf der Geschichte im Gegensatz zum heutigen Betrachter ungewiss war, breiten Raum, was seiner Darstellung Farbe verleiht.

„Italia 1943. La guerra continua“ gliedert sich neben einer Einleitung, in welcher Baldissara einige Charakteristika des Jahres 1943 als eines „außerordentlich dichten Moments“ (S. 9) vorwegnimmt und den historiographischen Diskurs zum Thema skizziert, in fünf Kapitel, die sich wiederum in mehrere Unterkapitel aufteilen. Im ersten Kapitel „Der Faschismus geht auf den Krieg zu“ erläutert Baldissara wesentliche Aspekte der Vorgeschichte und damit zugleich auch Ursachen für die während des Kriegs zu Tage tretende „soziale Krise“, deren Symptome er im zweiten Kapitel herausstellt. Dabei unterstreicht er die unzulängliche Kriegsvorbereitung der italienischen Wirtschaft und den aggressiven und imperialistischen Charakter der italienischen Außenpolitik während der 1930er-Jahre, der insbesondere im Abessinienkrieg zum Ausdruck kam. Den im Juni 1940 erfolgten Kriegseintritt aufseiten des Deutschen Reichs sieht Baldissara wie Enzo Collotti und Jens Petersen als das fast unausweichliche Ergebnis einer ideologischen Annäherung an, womit er sich von Renzo De Felices Interpretation der faschistischen Außenpolitik als des „entscheidenden Gewichts auf der Waagschale“ klar distanziert.2

Das zweite Kapitel „Krieg und soziale Krise“ zeichnet sich insbesondere dadurch aus, dass es die Krise der „inneren Front“ durch eine Perspektive „von unten“ verständlich macht. Die Verwendung von Selbstzeugnissen ermöglicht es Baldissara, die Erfahrungen „gewöhnlicher“ Zivilisten sowohl hinsichtlich der Bombardierungen als auch der Arbeitsbedingungen in den Fabriken greifbar zu machen. Die Streiks vom März 1943 interpretiert er wie De Felice3 als wirtschaftlich und nicht politisch motiviert – sie hätten jedoch insofern eine politische Bedeutung, als sie das Scheitern des Faschismus, die „innere Front“ zu kontrollieren, den Nichtanschluss der Arbeiterschaft an das Regime und vor allem eine Autoritätskrise des Faschismus offenbart hätten. Denn die Kommentare der faschistischen Führung, die dem Streik eine politische Zielsetzung zuschrieben, interpretiert Baldissara als ein Zeichen für die Realitätsferne des Regimes.

Das dritte Kapitel „Ein Machtsystem im Zusammenbruch“ beschreibt die zunehmende Desillusionierung der italienischen Militärführer, die seit Anfang 1943 für ein Ausscheiden Italiens aus dem Krieg plädierten, das Zögern des Königs, die erste, am 19. Juli erfolgte Bombardierung Roms, das ergebnislose „Treffen von Feltre“ zwischen Mussolini und Hitler am selben Tag, schließlich die Sitzung des faschistischen Großrats am 24./25. Juli und den Sturz des „Duce“. Die den „45 Tagen“ gewidmeten Seiten erweisen sich als besonders luzide, wo sie die „Grazilität und Ungewissheiten“ (S. 197) des wiedererstarkenden Antifaschismus behandeln. Baldissara bietet zudem einen ausgezeichneten Überblick über die Waffenstillstandsverhandlungen zwischen Angloamerikanern und Italienern. In seiner Interpretation überwiegen die Kontinuitäten der „45 Tage“ mit dem vorangegangenen Regime: Der 25. Juli und der 8. September seien durch den Versuch, die Monarchie zu retten, aufs Engste miteinander verknüpft. Die pessimistische Interpretation De Felices und Ernesto Galli Della Loggias vom „Tod des Vaterlands“4 lehnt Baldissara ab: Wenn am 8. September ein Vaterland gestorben sei, dann ein vom „Duce“ und dem König bereits delegitimiertes, eines, dem der Großteil der Italiener bereits ablehnend bis feindlich gegenübergestanden sei.

Besonders innovativ erscheint hinsichtlich des vierten Kapitels „Italiener im September“ Baldissaras Versuch, die Bedeutung der Balkan-Erfahrung für den in Entstehung begriffenen Guerillakrieg hervorzuheben – diese war vielleicht noch entscheidender als die so oft betonte Rolle der Rückkehrer aus dem Feldzug gegen die Sowjetunion. Äußerst lesenswert sind die Ausführungen zu den Vorgängen im jugoslawischen Grenzbereich Julisch-Venetien, die mit der Schlacht von Gorizia Aspekte und Probleme des späteren Partisanenkriegs in ganz Italien vorwegnahmen. Ebenso behandelt Baldissara anschaulich das Massaker von Boves, die Kämpfe im Bosco Martese und in Lanciano sowie die Aufstände im Süden, insbesondere die vier Tage von Neapel, deren Dimension als Volksaufstand er unterstreicht, und den Aufstand von Matera. Zwar muss man keineswegs die Interpretation De Felices von der Masse der italienischen Bevölkerung nach dem 8. September als einer „breiten Grauzone“5 teilen; jedoch bewertet Baldissara nach Meinung des Rezensenten die „verbreitete Kampfbereitschaft“ (S. 301) im September 1943 über: Viele Selbstzeugnisse italienischer Zivilisten sowie deutsche Quellen betonen gerade die Passivität der Zivilbevölkerung. Als überzeugend erweist sich hingegen die Analyse des Erfahrungshorizonts der Faschisten.

Im fünften und letzten Kapitel stellt Baldissara mehrere Mächte vor, denen ab Herbst 1943 ein Attribut fehlte: die „Deutschen ohne Verbündete“, den „Herrscher ohne Lorbeeren“ (gemeint ist Mussolini), eine „neue Macht ohne Staat“ (das „Nationale Befreiungskomitee“) und den „König ohne Königreich“ (Vittorio Emanuele III.). Bei den Bemerkungen zur Rolle der Deutschen in Italien wäre es möglich gewesen, die skizzierten Sicht- und Verhaltensweisen der politischen und militärischen Führung durch diejenigen „einfacher“ Soldaten und Offiziere zu ergänzen.6

„Italia 1943“ bringt kein neues Archivmaterial zu Tage, liefert jedoch auf einer breiten Basis von Historiographie und edierten Quellen eine über weite Teile beeindruckende Synthese, die es nicht scheut, Akzente zu setzen und innovative Interpretationen zu liefern. Die Darstellung verbindet politische und militärische Geschichte, Sozial- und Gesellschaftsgeschichte, Elemente einer Geschichte „von oben“ und „von unten“, und erläutert die vielfältigen Perspektiven unterschiedlicher Akteure und Protagonisten.

Baldissara überzeugt somit über weite Strecken durch eine tiefgründige Analyse relevanter Fragen; andere wichtige Aspekte des Jahres 1943 blendet er jedoch aus. Die Darstellung bleibt genau genommen im September/Oktober 1943 stehen. Etwa von der Organisation des bewaffneten Widerstands in den Städten in Form der Gruppi d’Azione Patriottica und den ersten Attentaten auf Deutsche und Faschisten erfahren Leser:innen daher nichts, ebenso wenig vom ersten und einzigen Kongress des Partito Fascista Repubblicano im November in Verona. Die Rolle des Klerus und der katholischen Kirche findet wenig bis gar keine Beachtung. Besondere Ratlosigkeit beim Rezensenten hat die Tatsache hervorgerufen, dass die Erfahrungen der Juden und der Holocaust, der mit den ersten Massakern im September und den großen Razzien im Oktober auf tragische Weise Italien erreichte, mit keiner Silbe erwähnt werden. Baldissara bietet somit keineswegs eine „Totalgeschichte“ des Jahres 1943 in Italien. Angesichts dieser inhaltlichen Lücken hätte sich der Rezensent zumindest eine deutlichere Erläuterung hinsichtlich Auswahl und Zielsetzung des Buchs gewünscht.

Anmerkungen:
1 Lutz Klinkhammer, Zwischen Bündnis und Besatzung. Das nationalsozialistische Deutschland und die Republik von Salò 1943–1945 (Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom 75), Tübingen 1993, S. 4.
2 Der zitierte Ausdruck ist ursprünglich ein von Dino Grandi geprägter Quellenbegriff. Vgl. im Einzelnen Enzo Collotti / Nicola Labanca / Teodoro Sala, Fascismo e politica di potenza. Politica estera 1922–1939, Mailand 2000, bes. S. 300f.; Jens Petersen, Die Stunde der Entscheidung. Das faschistische Italien zwischen Mittelmeerimperium und neutralistischem Niedergang, in: Helmut Altrichter / Josef Becker (Hrsg.), Kriegsausbruch 1939. Beteiligte, Betroffene, Neutrale, München 1989, S. 131–152; Renzo De Felice, Beobachtungen zu Mussolinis Außenpolitik, in: Saeculum. Jahrbuch für Universalgeschichte 24 (1973), S. 314–327.
3 Vgl. Renzo De Felice, Mussolini l’alleato, Bd. 1: L'Italia in guerra: 1940–1943, Unterbd. 2: Crisi e agonia del regime, Turin 1990, bes. S. 938–941.
4 Vgl. insb. Ernesto Galli Della Loggia, La morte della patria. La crisi dell’idea di nazione tra Resistenza, antifascismo e Repubblica, Rom 1996.
5 Vgl. Renzo De Felice, Mussolini l’alleato, Bd. 2: La guerra civile 1943–1945, Turin 1997, S. 72–342, bes. S. 296.
6 Vgl. https://www.ns-taeter-italien.org/it/temi/8-settembre-1943 (31.01.2024); Kerstin von Lingen, Soldatenperspektive auf Bündnispartner und Besatzungsherrschaft. Briefe aus Italien, 1943–1945, in: Veit Didczuneit (Hrsg.), Schreiben im Krieg – Schreiben vom Krieg. Feldpost im Zeitalter der Weltkriege, Essen 2011, S. 469–480.

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